Nur wer sich bewegt, kann etwas bewegen
Büroarbeit im Wandel Teil 3: Bewegungsverführung durch neue Raumkonzepte
Bei all den sich gegenwärtig beschleunigt vollziehenden Prozessen der Funktionalisierung und Digitalisierung stellt sich – unabhängig davon, ob die Arbeit im Büro oder zu Hause stattfindet – immer mehr die Frage: „Wo bleibt der Mensch?” Das offensichtlichste Merkmal aller für das Wohlbefinden der Menschen gestalteten Arbeitsorte ist die Qualität der Räume und die Flexibilität der Raumgestaltung und -nutzung. Eine Mischung aus offenen und geschlossenen Räumen sowie „Ich-“ und „Wir-Bereichen“ mit Vernetzungsmöglichkeiten zu Kollegen und naturnahen Sinnesstimulationen bieten gute Voraussetzungen, um sämtliche im Verlauf eines Arbeitstages anfallende Arten der Arbeit unter psychischen, physischen und sozialen Gesichtspunkten optimal zu unterstützen.
Physiologen haben mehrfach belegen können, dass unser sensorisches System permanent mit unserer Umgebung interagiert, was wiederum unser körperliches, kognitives und psychisches Wohlbefinden beeinflusst. Unerlässlich für das menschliche System ist regelmäßige körperliche Aktivität, also die Möglichkeit, nach Bedarf seine Körperpositionen zu verändern und sich im Raum zu bewegen. Der kontinuierliche Wechselbezug zwischen innerer Haltung beziehungsweise innerer Bewegung und äußerer Haltung beziehungsweise äußerer Bewegung sollte gewährleistet sein
Bewegung im Arbeitsalltag fördert Kreativität
„Passives Absitzen“ steht gesunden und kreativen Arbeitsprozessen entgegen. Studien zufolge beeinflussen körperliche Vorgänge die Emotionen und das Denken viel stärker als bisher angenommen. Vieles spricht für die These, dass Denkprozesse keine vom Körper losgelöste Fähigkeiten sind, sondern mit ihm in enger Beziehung und Wechselwirkung stehen. Permanente Haltungswechsel und Wechselhaltungen sowie das Bewegen im Raum fördern deshalb das Wohlbefinden im Allgemeinen, die Rückengesundheit und die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit.
Stanford-Forscher fanden heraus, dass die Integration von Bewegung in Arbeitsprozesse die kreative Leistung einer Person um durchschnittlich 60 Prozent erhöht. In einer anderen Studie untersuchten Forscher den Effekt der Arbeitsumgebungen auf die Qualität der Zusammenarbeit von Schülern. Das Ergebnis: In einem Raum, der die Schüler zum Stehen und Bewegen ermutigte, entwickelten sie deutlich mehr Ideen als in einem traditionellen Raum.
Statisches Sitzen trägt zum körperlich-geistigen Abbau bei
Eine Studie von Steelcase, ein weltweit führender Hersteller von Büroeinrichtungen, identifizierte als eines der größten Probleme, mit denen Mitarbeiter konfrontiert sind, die Räume, in denen sie arbeiten, und die Technologie, die ihnen zur Verfügung steht: So sitzen 70 Prozent der Beschäftigten in traditionellen Konferenzräumen fest. Die Studienautoren bezeichneten diese als „Kreativitätskiller“, da ihr Design und ihre Bestuhlung passives Sitzverhalten begünstigen, was zur körperlichen und geistigen Ermüdung beiträgt.
Dass Bewegung integraler Bestandteil unseres Lebensalltags sein sollte, um physiologische Stoffwechselprozesse aufrechtzuerhalten, gilt als unbestritten. Noch relativ jung ist die Erkenntnis, dass statisches Sitzen zum körperlich-geistigen Abbau führt und unsere Konzentrationsfähigkeit sabotiert. Der Grund dafür ist, dass körperliche Bewegung erhebliche Auswirkungen auf unser Gehirn hat: Bewegung verbessert die Leistungsfähigkeit bestimmter Bereiche des Gehirns wie den Hippocampus – unser Zentrum für Lernen und Gedächtnis – und den Bereich der exekutiven Funktionen, zu denen das Arbeitsgedächtnis gehört. Die Gehirngebiete, die die Motorik steuern und die exekutiven Funktionen werden durch regelmäßige körperliche Aktivität besser durchblutet und mit neuroplastischen Botenstoffen, Proteinen und Hormonen, versorgt.
„Wunderdünger“ für die Gehirnzellen
Sobald Muskelfasern in Bewegung geraten, wird ein Cocktail an molekularen Botenstoffen freigesetzt, die den Stoffwechsel im gesamten Körper positiv beeinflussen. So haben Forscher in den vergangenen Jahren fast 3000 unterschiedliche Eiweißstoffe identifiziert, die die Muskeln bei ihrer Arbeit freisetzen und in den Blutstrom einspeisen. Unter diesen Eiweißen sind Hunderte hormonähnliche Substanzen, die dadurch in den Körper wandern, darunter auch das Hirnreifungsprotein BDNF (engl.: brain-derived neurotrophic factor, übersetzt in etwa „Nervenwachstumsfaktor des Gehirns“).
BDNF stimuliert die Struktur von Nervenzellen positiv, fördert die Nervenzellbildung im Hippocampus und beugt Alterungsprozessen vor. Man kann das Protein daher ohne Übertreibung als „Wunderdünger“ für unsere Gehirnzellen bezeichnen, zumal es außerdem die Freisetzung von Dopamin unterstützt – einem Hormon, das die Neuroplastizität, also die Fähigkeit des Gehirns, sich durch Training verändern zu können, fördert. Darüber hinaus verbessert Dopamin die selektive Aufmerksamkeit, das Arbeitsgedächtnis und das Langzeitgedächtnis, fördert Neugierde und Entscheidungsfähigkeit.
Mobiliare Ausstattung als „Bewegungsverführer“
Je mehr wir also unser Gehirn durch Lernen und das Sammeln von vielseitigen Erfahrungen in Kombination mit Bewegung dazu veranlassen, BDNF zu produzieren, umso schneller und produktiver werden wir. Inaktivität, einseitige Reizüberflutung, wenig sinnstiftende Arbeit und andere seelisch-körperliche Belastungsfaktoren unterstützen dagegen die Freisetzung des Stresshormons Cortisol. Dieses unterdrückt die Produktion von BDNF und schädigt auf Dauer unser Gehirn. So haben Menschen mit Dauerstress einen kleineren Hippocampus. Regelmäßige körperliche Aktivität dagegen vermag die Anzahl neu gebildeter Nervenzellen, die sich in existierende Schaltkreise integrieren können, zu verdoppeln. Voraussetzung dafür sind bewegungsstimulierende Raum- und Arbeitsbedingungen, zu denen ganz zentral eine multifunktionale, ergonomisch-mobiliare Ausstattung gehört.
Bestandteile einer solchen Ausstattung sind unter anderem unterschiedliche Sitzmöbelkonzepte zur Unterstützung intuitiver und bedarfsgerechter Sitz- bzw. Sitz-Steh-Verhaltensweisen, unterschiedliche Tischkonzepte zum Sitzen und Stehen, auch mit platzsparenden Klappsystemen, mobile vertikale Projektionsflächen sowie Beschriftungs- bzw. bepinnbare Flächen, Lounge-Möbel mit akustischer Dämmung als Orte für Rückzug, zur Entspannung oder für geschützte Privatgespräche. Solche multifunktionalen Optionen animieren Beschäftigte dazu, intuitiv den eigenen Bedürfnissen und den gerade anfallenden Arbeitsprozessen entsprechende Haltungen einzunehmen und die Position regelmäßig zu wechseln. Bewegte Arbeitsprozesse wiederum sind eine wesentliche Voraussetzung für den Erhalt der körperlichen, psychischen und kognitiven Gesundheit der Beschäftigten und somit auch ihrer „Workabilty“.
Lesen Sie zu diesem Thema auch:
- Büroarbeit im Wandel – Teil 1: Die Kultur des agilen Arbeitens
- Büroarbeit im Wandel – Teil 2: Entwickeln Sie Ihre eigene Homeoffice-Routine
Der Artikel ist eine adaptierte Version des Fachaufsatzes „Büroarbeit im Wandel" von Dr. Dieter Breithecker, erschienen in „Die Säule“, der gemeinsamen Mitgliederzeitschrift des Forum Gesunder Rücken – Besser leben e.V. und des Bundesverbands deutscher Rückenschulen (BdR).