Perspektivwechsel: Warum Ergonomie zu kurz greift

Physiologisches System des Menschen verlangt ganzheitliche Ansätze der Bewegungsförderung

von Dr. Dieter Breithecker
Foto: Haider-Bioswing

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Unser Büroalltag heute ist von langen Sitzzeiten geprägt. Aufgrund der menschlichen Entwicklungsgeschichte bekommt uns das jedoch nicht gut. Dauersitzen stellt ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko dar. Bis heute wird die Lösung dieses Problems in einer ergonomischen Gestaltung der Arbeitsumgebung und vor allem im dazugehörigen „Werkzeug“, einem Bürodrehstuhl, gesehen. Heute weiß man – dieser Ansatz greift zu kurz.

Mit dem „richtigen“ Stuhl ist es nicht getan

Die große Zeit der Ergonomie begann Mitte der 1970er Jahre. Die Gesundheitsvorsorge verlangte sichere und anpassbare Möbel – mit ihren auf orthopädisch-biomechanischen Grundmodellen basierenden Normen und Paradigmen, wie zum Beispiel einer als „richtig“ visualisierten Sitzhaltung. Diese Normen und Paradigmen sind in ihrer Grundform bis heute in den meisten ergonomischen Beratungsleistungen verankert. Hierbei handelt es sich allerdings um einen sehr reduktionistischen Ansatz. Denn er suggeriert den Dauersitzern, mit einem ergonomischen Bürodrehstuhl bereits das Wesentliche für Rückengesundheit, Sitzkomfort und Produktivität getan zu haben. Sie wiegen sich damit jedoch in einem Gefühl falscher Sicherheit oder sitzen gar einem Selbstbetrug auf, denn dadurch das Dauersitzen oft sogar noch gefördert. 

Dass die Sitzzeiten bei den Beschäftigten in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen haben, zeigt der DKV-Report 2021: An einem normalen Werktag trainieren die Deutschen im Durchschnitt 8,5 Stunden ihr Sitzfleisch – eine ganze Stunde länger als noch 2018. Die Folgen sind unter anderem Stoffwechselerkrankungen, Entzündungsprozesse, vorzeitiges Altern und vorzeitiger Tod.

So viel Bewegung wie möglich

Es ist deshalb Zeit für einen Perspektivwechsel: Denn komplexe und offene Systeme, wie das menschliche physiologische System mit seinen unzähligen Interaktionen, verlangen multimodale, systemische Ansätze für eine ganzheitliche Gesunderhaltung beziehungsweise -förderung. Dazu gehört neben einer mediterranen Ernährung, belebenden physischen Sozialkontakten und einem guten Stressmanagement vor allem die Integration von regelmäßiger Bewegung in den (Büro-)Alltag. Nur so kann multifaktoriellen Erkrankungen wirksam vorgebeugt werden. Machen Sie sich deshalb folgendes Leitmotiv zu Ihrem Grundsatz: „So viel Sitzen, wie nötig – so viel Bewegung, wie möglich!“

Tipps für mehr Bewegung im Büroalltag

  • Ermöglichen Sie auch dort bedarfsgerechte und komplexe Bewegungen, wo es bisher nicht erwünscht war, also im Sitzen. Wählen Sie Stühle mit einer mehrdimensional beweglichen Sitzfläche.
  • Erweitern Sie Ihren Arbeitsplatz mit Sitz-Stehpulten und mobilen, also flexibel einsetzbaren Stehpulte. Benutzen Sie nach Bedarf Stehhilfen und Fußmatten.
  • Nutzen Sie auch ansonsten jede Stehoption, die sich Ihnen bietet, zum Beispiel Fensterbänke, Sideboards und Ablageflächen.
  • Machen Sie Ihre Besprechungen oder agile Arbeitsprozesse zu „Stand-up-Meetings".
  • Organisieren Sie Abläufe im Büro so, dass Wege entstehen, beispielsweise indem Sie den Papierkorb entfernt vom Schreibtisch positionieren.

Auf Basis aktueller Studienlage gilt die These, dass nur 10 bis 20 Prozent des Krankheitsrisikos genetisch vorprogrammiert sind. Das heißt, wir haben durch unseren Lebensstil einen erheblichen Einfluss auf unsere Gesundheit. Dies eröffnet uns vielfältige Wege und Möglichkeiten, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

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