Sensomotorik im Kindesalter
Mit allen Sinnen die Umwelt wahrnehmen
Die sensomotorische Entwicklung im Kindesalter ist ein wichtiger Lernprozess, der in den letzten Jahren stark negativ durch zunehmenden Bewegungsmangel beeinflusst wurde (Pellegrini & Smith, 1998; Cords & Miller, 2000). Bei der sensomotorischen Entwicklung handelt es sich um einen stufenweise ablaufenden Lernprozess, der von genetischen Faktoren, vor allem aber auch durch Umweltreize beeinflusst wird. Im Laufe der sensomotorischen Entwicklung lernen Kinder mithilfe all ihrer Sinne Informationen aus der Umwelt wahrzunehmen, zu verstehen und zu interpretieren. Außerdem entwickeln sich die Grob- und Feinmotorik, d. h. die Kinder lernen ihren Körper zu kontrollieren und Muskeln gezielt zu koordinieren.
Im weiteren Entwicklungsverlauf bildet sich auch die Hand-Auge-Koordination aus, die wichtig für viele Alltagsaktivitäten wie bspw. das Greifen nach Gegenständen oder Schreiben ist. Kinder lernen mit der Kontrolle ihrer Bewegungen das Gleichgewicht zu halten und sie können zunehmend Räume und Entfernungen einschätzen. Vor allem frühe und vielfältige motorische und sensorische Erfahrungen spielen eine entscheidende Rolle für die weitere kognitive und motorische Entwicklung.
Defizite durch fehlende Bewegung
Im heutigen hochtechnischen und schnelllebigen Alltag fehlen oft Bewegungsräume und schon Schulkinder weisen häufig zu lange Sitzzeiten auf. Durch die dadurch fehlenden Bewegungsreize kann es in der Entwicklung der Sensomotorik schnell zu Defiziten kommen. Burrmann (2003) fand heraus, dass 40 bis 60 Prozent der Schulkinder Haltungsschwächen sowie deutliche Koordinations- und Ausdauerschwächen aufweisen. Auch Spann & Buscher (2013) fanden deutliche Defizite bei Kindern im Bereich des Gleichgewichts. Bei Kindern ab zehn Jahren kamen eine abnehmende Beweglichkeit und damit zusammenhängend Schmerz- und Stressmuster hinzu. Einzelne Defizite können Kinder leicht wieder ausgleichen, aber es ist problematisch, wenn in jungen Jahren bereits mehrere Schwächen auftreten. Im Baby-, Kleinkind- und Kindesalter erlernen wir die Basis für alle weiteren koordinativ anspruchsvolleren Aufgaben (wie z. B. Schreiben, Laufen, Schleife binden etc.). Wenn bereits bei den Grundlagen starke Defizite auftreten, ist es umso schwieriger, darauf aufbauende koordinativ anspruchsvollere Aufgaben zu bewältigen. Gerade zappelige Kinder haben oft Defizite im vestibulären Bereich – ruhiges Sitzen stellt eine enorme Herausforderung für sie dar, da sie sich immer wieder neu darauf fokussieren müssen, wie sie sitzen. Dadurch ist ihre Aufmerksamkeit viel beim eigenen Körper und wenig bei äußeren Reizen wie z. B. der Lehrperson in der Schule, was ein großes Problem für die schulischen Lernerfolge darstellt (Hoffmann et al., 2015).
Bewegungsförderung
Je bewegter die ersten Lebensjahre sind, desto lückenloser bilden sich die Netzwerke im Gehirn aus. Nur Kinder, die sich bspw. den Kopf auch mal stoßen, können lernen, die Ausmaße ihres eigenen Körpers sowie räumliche Dimensionen einzuschätzen. Daher ist es wichtig, dass eine alters- und entwicklungsangepasste Bewegungsförderung bzw. Möglichkeiten zur freien Bewegung gegeben werden.
Wie kann die sensomotorische Entwicklung optimal gefördert werden? Die nötigen Reize zur Entwicklung der Sensomotorik hängen immer von Alter und aktuellem Stand der Fähigkeiten ab und sollten an beides angepasst werden. Bestenfalls „trainieren“ die Kinder spielerisch. Buscher (2015) schreibt, dass die Entwicklung der Sensomotorik bereits ab der neunten Schwangerschaftswoche beginnt. Schon hier kann die Mutter diese Entwicklung positiv durch sanfte Reize wie regelmäßige (Alltags-)Bewegung, Spazieren oder Tanzen beeinflussen. Im Baby- und Kleinkindalter sollte dem Kind viel Bewegungsfreiraum gelassen werden, damit es viele Möglichkeiten zum Bewegen, Ausprobieren und Üben hat. Schon ein Teppich und ein paar interessante Gegenstände in der Nähe reichen aus, um das Kind zu Körperstreckung, -drehungen sowie Stützen und Strampeln zu animieren. Besonders durch das Krabbeln werden das Zusammenspiel von rechter und linker Körperseite trainiert, wodurch das Krabbeln eine wichtige Übung für das spätere Laufen und weitere Bereiche der Alltagsbewältigung darstellt. Im Kindergarten- und Schulalter können sensomotorische Übungen optimal in Spielformen eingebettet werden. Zum Training der kinästhetischen Wahrnehmung können bspw. gut Parcours mit verbundenen Augen durchlaufen werden, zum Gleichgewichtstraining können alters- und entwicklungsangepasste Bewegungslandschaften aufgebaut werden, die instabile Untergründe enthalten.
Gleichgewicht trainieren
Neben großen Spielen für die Sporthalle gibt es auch zahlreiche kleinere Spielzeuge für verschiedene Altersklassen, mit denen die sensomotorische Entwicklung auf dem Pausenhof, in der Kita oder zu Hause gefördert werden kann. Besonders beliebt sind Balancespielzeuge. Beispielsweise bietet die Firma Pedalo verschiedenste Balancespielzeuge für unterschiedliche Altersklassen an, auf denen das Gleichgewicht in verschiedenen Schwierigkeitsgraden trainiert werden kann. Weitere Optionen, die Balance spielerisch zu trainieren bieten Stelzen oder sogenannte Balancekreisel. Für bereits geübte Kinder bietet auch eine Slackline eine wunderbare Möglichkeit, das Gleichgewicht zu trainieren und gleichzeitig Spaß zu haben. Auch Laufräder trainieren praktisch nebenbei die für das spätere Fahrradfahren notwendigen koordinativen Fähigkeiten.
Jedoch kann auch für Erwachsene ein Gleichgewichtstraining hilfreich sein: Besonders zur Sturzprophylaxe in der Geriatrie, nach Gelenkverletzungen oder bei neurologischen Erkrankungen ist es wichtig, die Gleichgewichtsfähigkeit und die Körperwahrnehmung (Tiefensensibilität) zu erhalten bzw. diese wieder aufzubauen und zu verbessern. Hierzu kommt in der Therapie neben Balancepads und Therapiekreiseln häufig das Posturomed zum Einsatz. Das Posturomed verfügt über eine instabile Therapiefläche und ermöglicht dosiert gedämpfte Pendelbewegungen mit unterschiedlich einstellbaren Schwierigkeitsgraden.
Grundsätzlich sollte darauf geachtet werden, dass die Bildschirmzeiten bei Kindern möglichst lange geringgehalten werden, damit viel Zeit und Raum für die sensomotorische Entwicklung bleibt. Je weniger Zeit die Kinder am Bildschirm verbringen, desto mehr Zeit steht zur Verfügung, um auf natürliche Art und Weise durch freies Spiel und mithilfe der umgebenden Reize die Sensomotorik auszubilden. Auch hier gilt das Motto: Je vielfältiger, desto besser.
Literatur
- Buscher, A. (2015) Spielerische Bewegungsangebote zur Förderung der kindlichen Entwicklung.
- Burrmann, U. (2003). Bericht zum Bewegungsstatus von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Neues aus der WIAD-AOK-DSB-Studie II.
- Cordes, C., & Miller, E. (2000). Fool's gold: A critical look at computers in childhood.
- Hoffmann, E., Striegel, U., Silberzahn, J., & der Lehrerinnen, D. M. (2015). Mit Gleichgewichtstraining zu besseren Schulleistungen – Teil 3. In Forum HNO (17) (pp. 6–11).
- Pellegrini, A. D., & Smith, P. K. (1998). Physical activity play: The nature and function of a neglected aspect of play. Child development, 69 (3), 577–598.
- Spann, S., & Buscher, A. (2013). Powermoves für fitte Kids: aufrecht und stark durch den Alltag (12-wöchiges Kursprogramm für Kinder von 8 bis 12 Jahren; Schulung der Körperwahrnehmung & Sensomotorik; Förderung von motorischen Grundfähigkeiten wie z. B. Koordination). Meyer & Meyer Verlag.